LimbO
40 Jahre
männlich |
von LimbO am 29.10.2005 um 15:39 Uhr:
Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige; die Höflichkeit gewöhnlicher Menschen ist die Unpünktlichkeit. Diese einfache Wahrheit ist dem Allgemeinbewusstsein entfallen.
Nur wenige liebenswürdige Geschöpfe, Frauen in der Mehrzahl, beherzigen sie wenigstens noch instinktiv in der täglichen Lebenspraxis; sich offen zu ihr zu bekennen, wagen auch sie nicht mehr. Wer eine Lanze für die Unpünktlichkeit zu brechen wagt, begegnet schier allgemein dem hasserfüllten und fanatischen Widerstand, mit dem die Menschen ihre Fehler verteidigen. Die Pünktlichkeit, eine säuerliche und unerfreuliche Tugend, gestattet es ihren Jüngern nicht einmal, sich ihrer offen heraus zu rühmen. So können sie sich nur nur entschädigen, indem sie wenigstens die Unpünktlichkeit nach Kräften schmähen und den armen Unpünktlichen ihre sittliche Mißwachsenheit recht herb zu fühlen geben. Die Ehrenrettung der Unpünktlichen ist ein undankbares Geschäft.
Und doch, wie viel Takt, Freundlichkeit und Herzenshöflichkeit liegt in einer wohldosierten Unpünktlichkeit ! Der Unpünktliche setzt sich selbst freiwillig von vornherein dem Wartenden gegenüber ein wenig ins Unrecht; er gibt sich eine Gelegenheit, sich zu entschuldigen, liebenswürdig zu sein, zu versöhnen. Er nimmt es auf sich, der Schlechte, der Missratene, der Verzeihungsbedürftige zu sein, während er es in Wahrheit ist, der durch scherzhafte Selbstanklage, durch herzlich übertriebene Zerknirschung, durch eifrig-angelegentliches Werben um das Wohlwollen des Gekränkten dem Gespräch von Anfang an etwas Menschliches und Erfreuliches gibt. Der Unpünktliche übernimmt die Kosten der Unterhaltung. Auch ist der Unpünktliche fast stets guter Laune; er hat seine Laune nicht im Hetzen, Warten und Nach-der-Uhr-Sehen verpufft. Der Unpünktliche ist bescheiden; durch sein Zuspätkommen zeigt er, dass er nicht erwartet hat, der andere werde seinetwegen Pünktlich sein. Der Unpünktliche ist unterhaltsam; stets hat er etwas erlebt, was ihn verhindert hat, pünktlich zu sein. Stets weiß er eine heitere und abenteuerliche Erzählung daraus zu gewinnen. Hat man schon einmal bemerkt, dass niemand so geistreich, witzig und plastisch wie der Unpünktliche, der sein Säumnis entschuldigen und wiedergutmachen will? Unpünktlichkeit macht erfinderisch. Sie ist eine entfernte Verwandte der Musen und Grazien.
Das lässt sich von der Pünktlichkeit nicht sagen. Die Pünktlichkeit ist sie selbst, basta, sie ist eine Tugend. Sie hat es nicht nötig, liebenswürdig zu sein. Sie beglückt nicht; sie beglückt keinen, am wenigsten aber ihren Jünger und Nacheiferer. Ihn martert sie. Zuerst sitzt sie ihm als trüber Alptraum auf dem Herzen, als rechnende, geizige Angst vor versäumten Zügen, unvorhergesehenen Aufenthalten, verfehlten Verabredungen, Vorwürfen, Missverständnissen, Krach. Dann verwandelt sie sich in höhnische, minutenzerrende, hohle, gähnende Langeweile – die Langeweile des Wartenden, der wie an einer Fußkette langsamen, schleppenden Schritts den Ort der Verabredung umkreist, als schlössen ihn die Wände einer unsichtbaren Zelle ein. Allmählich aber geht sie in Wut über, in die giftige Wut des Unterdrückten, dem unerhörtes Unrecht geschieht. Jetzt treten dem Pünktlichen alle Fehler des Erwateten deutlich vor die Seele, kleine vergessene, ha! , unvergessene Kränkungen fallen ihm ein, kleine ungesühnte Bosheiten und Missetaten, und jetzt, während sich der Zeiger der Uhr langsam, langsam immer weiter von der verabredeten Stunde entfernt, wird abgerechnet.
Und doch gibt es Menschen, die nicht von der Pünktlichkeit lassen, die ihr verfallen sind wie einer zärtlichen Geliebten, der man um so hingegebener frönt, je bitterer sie einen leiden macht. Es sind die Pünktlichen schlechthin, eine unheimliche und furchteinflößende Menschenart. Es sind nicht unbedingt schlechte Menschen, wenigstens brauchen sie es nicht zu sein; es gibt sogar bescheidene Pünktliche, einen liebenswürdigen Schlag, der die Korrektheit als eine Art Deckfarbe wählt, als ein Mittel der Unauffälligkeit, und der eine erfreuliche Scham zeigt, wo seine Tugend einmal ins Scheinwerferlicht gerät (Tugenden sind nur dann erträglich, wenn man sich ein bisschen für sie entschuldigt). Aber die richtigen Pünktlichen sind nicht so; sie sind unheimlich. Der Pünktliche ist niemandem etwas schuldig, er tut, was von ihm verlangt wird, und er will sein Recht und nichts als sein Recht. Er hat es nicht nötig, wie der schlampige Zuspätkommer, mit geistreichen Lügengeschichten aufzuwarten.
Jeder Pünktliche ist ein lebendiger Vorwurf. Und was das Schreckliche ist: Es freut ihn, ein Vorwurf zu sein. Hiermit entschädigt er sich für alle Leiden des Wartens, und hiermit entschädigt er sich für alle Leiden, die es ihm macht, nicht den Mut zur Unpünktlichkeit zu haben. Man findet Pünktlichkeit vorwiegend bei Leuten, die im Leben irgendwo zu kurz gekommen sind und die Grund haben, sich über die Ungerechtigkeit der Welt zu beklagen. Sie sehen, wie den Unpünktlichen verziehen wird, wie sie gar noch gerechtfertigt und verhätschelt werden , und sie ziehen das Kinn an den Kragen und schlucken hinunter und rächen sich durch Pünktlichkeit. Wenn andere beliebter sind, nun, so sind sie pünktlicher.
Während es den Unpünktlichen nie einfallen wird, von der Nebenwelt ebenfalls Unpünktlichkeit zu verlangen, fordern die Pünktlichen die Pünktlichkeit aller aufs strengste. Es beleidigt sie, dass die Unpünktlichkeit geduldet wird, ja dass die überhaupt existiert. Sie würden viel darum geben, sie abschaffen, nein, sie ausrotten zu können. Und doch, wiegut ist es für sie, dass ihnen das nie gelingen wird! Was hätten sie von aller Pünktlichkeit, wenn es keine Unpünktlichen mehr gäbe? Niemand wäre dann mehr, auf den sie warten, wegen dem sie sich ärgern, über den sie sich stumm erheben könnten! Die Pünktlichkeit hätte ihren Sinn verloren.
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